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Die „Prangerlisten“ der Zentrale Nord: Spurensuche zu einer ungewöhnlichen archivalischen Quelle

Ausschnitt aus einer Prangerliste vom 15.06.1923.
Signatur: LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 21 (CC BY-SA 4.0, Verzeichnungseinheit im Archivportal NRW)

In Archiven finden sich häufig Quellen, deren Entstehungszusammenhänge auf den ersten Blick unklar sind. So ist mitunter nicht bekannt, wann ein Schriftstück verfasst wurde, wer es verfasst hat und wie es überhaupt ins Archiv gelangte. Ein Beispiel für eine solche Quelle ist eine Akte, die im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Abteilung Westfalen)[1] in Münster überliefert ist. Sie enthält Listen mit Namen von Personen, die während der  Ruhrbesetzung 1923 mit Angehörigen der französischen und belgischen Besatzungsmacht kooperiert haben sollen. Die meisten Listen tragen die Überschrift „Prangerliste“.

Dieser Blogbeitrag soll am Beispiel der Prangerlisten beleuchten, welche ungewöhnlichen Archivalien im Archiv zu finden sind und wie ihre unbekannten Entstehungskontexte ergründet werden können.

 

Die Aktivitäten der Zentrale Nord und Bestandsgeschichte

Erste Anhaltspunkte zur Aufarbeitung des Entstehungszusammenhangs eines Archivales können die Tätigkeiten der abgebenden Stelle und die Bestandsgeschichte bilden. Die Akte ist im Bestand „K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle“ überliefert. Diese Zentrale Nord wurde wahrscheinlich als geheime regionale Befehlsstelle eingesetzt, um einen aktiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung zu unterstützen.[2] Die Beteiligung staatlicher Stellen bei den Aktivitäten der Zentrale Nord wird in der Literatur höchst unterschiedlich charakterisiert. Die Beschreibungen reichen von einer gesicherten Illegalität der Zentrale Nord[3] bis hin zu einem Handeln im „staatlichen Auftrag“.[4] Insgesamt ordnet Gerd Krüger die Tätigkeiten der Zentrale Nord treffend in einen Bereich der „lizensierten Illegalität“[5] ein.

Zum Sammeln von militärischen und innenpolitischen Nachrichten wurde die Nachrichtenstelle der Zentrale Nord eingerichtet.[6] Leiter der Nachrichtenstelle war Heinz Kölpin, der bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges als Leiter des geheimen „Büros Kölpin“ Nachrichten zur linksradikalen Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet sammelte.[7]

Briefkopf der Nachrichtenstelle der Zentrale Nord auf einem Durchschlag.
Signatur: LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 1 (CC BY-SA 4.0, Verzeichnungseinheit im Archivportal NRW)

Einige Jahre nach dem Ende der Ruhrbesetzung eröffnete Kölpin ein Detektivbüro in Münster und lagerte die Unterlagen der Nachrichtenstelle der Zentrale Nord gemeinsam mit den Unterlagen des „Büros Kölpin“ in seinen Büroräumen.[8] Er meldete am 12.06.1933 das Vorhandensein des Aktenmaterials an den Gau Westfalen Nord. Es folgten mehrere Besichtigungen der Unterlagen, auch begannen Verhandlungen verschiedener Stellen mit Kölpin im Hinblick auf eine Übernahme des Materials.[9] Am 15.03.1935 wurden schließlich „etwa 20 Pakete Akten und 16 Karteikästen“[10] in das Staatsarchiv Münster übernommen.

Die Unterlagen Kölpins wurden ab 1974 erschlossen.[11] Der Bestand der Nachrichtenstelle wurde 2023 vollständig digitalisiert und ist über das Archivportal NRW zugänglich.

Beim Aktenmaterial Kölpins handelt es sich um Unterlagen, die vermutlich im Auftrag und unter Mitwirkung staatlicher Stellen entstanden sind. Zum Großteil wurden die Akten in behördlicher Art und Weise geführt, darüber hinaus ist der Bestand in der Tektonik des Landesarchivs heute im Bereich des amtlichen Schriftgutes eingeordnet. Allerdings wurden die Unterlagen über einen längeren Zeitraum in den privaten Büroräumen Kölpins gelagert und auch als nichtamtliches Schriftgut in das Staatsarchiv übernommen.[12]

Der amtliche Charakter der Unterlagen war jedoch bereits im Vorfeld der Übernahme Gegenstand von Diskussionen. So berichtete das Regierungspräsidium Münster am 30.01.1935 an die Generaldirektion der preußischen Staatsarchive, dass Kölpin das Aktenmaterial zunächst als „sein Privateigentum“[13] betrachtet habe. Ihm sei entgegnet worden, dass „man über die Frage des Eigentums an dem Material geteilter Ansicht sein könne“[14]. In Bezug auf das Material des „Büros Kölpin“ gab das Regierungspräsidium gar an, dass dieses „gewissermaßen bei Ausübung staatsdienstlicher Funktionen“[15] entstanden sei. Somit hätte der Staat „ohne weiteres die Herausgabe des Materials“[16] beanspruchen können. Schließlich erklärte sich Kölpin mit einer unentgeltlichen Übergabe des Aktenmaterials einverstanden, für die mehrjährige Lagerung der Unterlagen erhielt er eine Entschädigung von 500 Reichsmark.[17] Die Übernahme der Unterlagen in das Staatsarchiv kann somit gewissermaßen als „Glücksfall“ bezeichnet werden.

 

Erstellung und Aufbau der Prangerlisten sowie die Auswertung in der Nachrichtenstelle der Zentrale Nord

Nach der Betrachtung des Bestandsbildners und der Bestandsgeschichte soll nun der Entstehungskontext der Prangerlisten selbst ergründet werden, zu dem jedoch kaum Hintergrundinformationen vorliegen. Bei der Betrachtung der Listen fällt zunächst auf, dass diese einem sehr regelmäßigen Aufbau folgen und zumeist in einen Abschnitt „Mädchen“[18] und einen Abschnitt „Verschiedenes“ gegliedert sind.[19] Innerhalb dieser Abschnitte sind die Personen, welche mit den Besatzungsbehörden kooperiert haben sollen, mit ihrem Wohnort und einer knappen Beschreibung ihres „Vergehens“ aufgelistet.

Die Listen stammen aus einem Zeitraum vom 15.06. bis zum 24.09.1923, die Überlieferung endet somit erst sehr kurz vor dem Ende des passiven Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung. Es ist grundsätzlich von einer sehr regelmäßigen – beinahe werktäglichen – Erstellung und Versendung der Listen auszugehen. Gegen Ende der Laufzeit ist jedoch eine deutlich unregelmäßige Überlieferung der Listen zu beobachten, zudem ist die Chronologie innerhalb der Akte zunehmend gestört.

Auf den Listen sind zahlreiche Bearbeitungsspuren der Nachrichtenstelle der Zentrale Nord zu finden. So ist auf fast allen Listen ein Präsentatum vermerkt, daneben ist in der Regel die Kenntnisnahme der Liste mit einem „K“ vermerkt.[20] Es ist anzunehmen, dass dieses „K“ die Paraphe Kölpins ist. Selten erfolgt auch eine Zuschreibung der Listen auf bestimmte Mitarbeiter der Nachrichtenstelle.[21] Zudem ist auf fast allen Listen ein „Z“ notiert, dessen Funktion nicht klar ausgemacht werden kann. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine „zu den Akten“-Verfügung. Darüber hinaus sind eine zeitgenössische Foliierung[22] und verschiedene Markierungen auf den Listen aufgebracht.

Namen, Vermerke und Unterstreichungen auf einer Prangerliste.
Ausschnitt aus einer Prangerliste vom 26.07.1923. Oben befindet sich mittig das handschriftliche Präsentatum vom 30.07.1923, rechts daneben Kölpins Paraphe als Vermerk der Kenntnisnahme. Rechts daneben ist das „Z“ mit unklarer Funktion zu sehen. Rechts daneben befindet sich die zeitgenössische Foliierung. Die Namen auf der Liste sind unterstrichen.
Signatur: LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 21 (CC BY-SA 4.0, Verzeichnungseinheit im Archivportal NRW)

Auf fast allen Listen wird zudem die Anlage von Karteikarten zu den Personen, die auf den Listen aufgeführt sind, verfügt. Diese Verfügung ist häufig auch durch Kölpin abgezeichnet. Meist folgt der Verfügung ein Erledigungsvermerk, der oft durch eine Person namens Brabender[23] abgezeichnet ist. Diese Karteikarten sind jedoch zum Großteil nicht überliefert.[24]

Das Bild zeigt handschriftliche Vermerke auf einer Prangerlsite.
Ausschnitt aus einer Prangerliste vom 20.08.1923. Zu sehen ist die gestempelte Verfügung zur Anlage von Karteikarten mit der Paraphe Kölpins. Rechts daneben befindet sich der Erledigungsvermerk mit der Paraphe Brabenders.
Signatur: LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 21 (CC BY-SA 4.0, Verzeichnungseinheit im Archivportal NRW)

Die Verfügungen und Vermerke auf den Listen stammen von mehreren (mindestens vier) Händen, sodass von einem Geschäftsgang unter Mitwirkung mehrerer Mitarbeiter auszugehen ist. Die Bearbeitungsspuren sprechen insgesamt für eine sehr intensive Auswertung der Listen in der Nachrichtenstelle.

Aus den Prangerlisten geht jedoch nicht hervor, von welcher Stelle sie erstellt wurden. Die Nachrichtenstelle wird die Prangerlisten nicht selbst erstellt haben, da es sonst das Präsentatum und die weiteren Bearbeitungsspuren nicht gäbe. Oben rechts auf den Listen ist in der Regel die Bezeichnung „Prüfstelle“ oder die Abkürzung „P.S.M.“ angegeben, welche für „Prüfstelle Münster“ stehen könnte. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Stelle um eine mit der Nachrichtenstelle befreundete Überwachungsorganisation.[25]

Hierbei könnte es sich um eine Zensurstelle in Münster handeln, welche Briefe an Angehörige der Besatzungsbehörden auswertete.[26] So ist denkbar, dass die in den Prangerlisten genannten Informationen allein über die Auswertung von Postsendungen gewonnen wurden. Beispielsweise sind für fast alle aufgeführten Personen Adressen angegeben und auch die in den Listen genannten Handlungen hätten gut Niederschlag im postalischen Schriftverkehr finden können. Zudem kommen auffällig viele der aufgeführten Personen aus Düsseldorf, wo die Zensurstelle zu Beginn der Ruhrbesetzung ihren Sitz hatte.[27] Darüber hinaus ist der Bericht eines Mitarbeiters der Zensurstelle überliefert, dessen sprachlicher Stil erhebliche Ähnlichkeiten zum Stil der Prangerlisten aufweist.[28]

 

Fazit

Insgesamt zeigt sich, dass es einige Anhaltspunkte gibt, anhand derer der Entstehungskontext der Prangerlisten ergründet werden kann. So sind die Aktivitäten der Zentrale Nord und die Bestandsgeschichte gut nachvollziehbar. Eine Besonderheit des Bestandes liegt in den Umständen der Übernahme und insbesondere in der Frage, ob die Unterlagen als amtliches oder nichtamtliches Schriftgut zu behandeln sind.

Auch Aufbau und Inhalt der Listen selbst sowie ihre Bearbeitung in der Nachrichtenstelle der Zentrale Nord sind überwiegend nachvollziehbar. Hingegen kann nur spekuliert werden, welche Stelle die Listen erstellte und auf welchem Wege sie in die Nachrichtenstelle gelangten. Dass der oder die Verfasser unbekannt sind, schränkt, wie auch die sehr knappe Formulierung der Listen, die Aussagekraft der Prangerlisten erheblich ein.

Hinweis: Grundlage dieses Blogbeitrages ist eine Hausarbeit, die im Fach „F-G 34 Landesgeschichte II“ (Dozent: Dr. Robert Meier) im Fachhochschulstudium an der Archivschule Marburg angefertigt wurde.

 

Quellen- und Literaturverzeichnis

Literatur

Gerd Krüger, Überwachung der Bevölkerung und „Bestrafung“ nonkonformen Verhaltens während und nach der Ruhrbesetzung (1923–1926), in: Jörn Rüsen (Hrsg.), Kulturwissenschaftliches Institut. Jahrbuch 1997/98, Essen 1998, S. 264–284

Gerd Krüger, „Aktiver“ und passiver Widerstand im Ruhrkampf 1923, in: Günther Kronenbitter/Markus Pöhlmann/Dierk Walter (Hrsgg.), Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2006 (Krieg in der Geschichte 28), S. 119–130

o.A., Sprengung des „Volkswillen“ in Münster, in: LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte (Hrsg.), Internet-Portal „Westfälische Geschichte“, Münster 2004, URL (zuletzt abgerufen am 12.12.2024)

Paul Wentzcke, Ruhrkampf. Einbruch und Abwehr im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Bd. 2, Berlin 1932

Archivgut

LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 1, abgerufen über: Archive in Nordrhein-Westfalen, URL (zuletzt abgerufen am 11.12.2024)

LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 21, abgerufen über: Archive in Nordrhein-Westfalen, URL (zuletzt abgerufen am 11.12.2024)

LAV NRW W, P 501/Staatsarchiv Münster, Dienstregistratur, Nr. 788

Findmittel

Gert Schaa, Einleitung zum Findbuch LAV NRW W, K 752/Büro Kölpin, Münster, Münster 1974, abgerufen über: Archive in Nordrhein-Westfalen, URL (zuletzt abgerufen am 17.09.2024)

Gert Schaa, Einleitung zum Findbuch LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Münster 1978, abgerufen über: Archive in Nordrhein-Westfalen, URL (zuletzt abgerufen am 17.09.2024)


[1] Im Folgenden: LAV NRW W.

[2] Ausführlich geschildert bei Krüger 1998, S. 266.

[3] So die Einschätzung von Schaa 1974.

[5] O.A. 2004.

[5] Krüger 1998, S. 266.

[6] Nach Schaa 1978.

[7] Die Person Kölpins beschreibt Krüger 1998, S. 266.

[8] Vgl. LAV NRW W, P 501 Staatsarchiv Münster, Dienstregistratur, Nr. 788.

[9] Ausführlich beschrieben bei Schaa 1974.

[10] LAV NRW W, P 501 Staatsarchiv Münster, Dienstregistratur, Nr. 788.

[11] Vgl. Schaa 1974.

[12] Dies wird insbesondere daran deutlich, dass die Unterlagen aktiv eingeworben wurden und intensiv mit Kölpin über die Übernahme verhandelt wurde (vgl. ebd.). Der Schriftwechsel zur Übernahme des Bestandes ist zudem gemeinsam mit weiteren Vorgängen zur Übernahme von Sammlungsgutbeständen veraktet worden (vgl. LAV NRW W, P 501 Staatsarchiv Münster, Dienstregistratur, Nr. 788).

[13] LAV NRW W, P 501 Staatsarchiv Münster, Dienstregistratur, Nr. 788.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Vgl. ebd.

[18] Hier sind meist Frauen aufgeführt, welche Beziehungen mit Besatzungssoldaten eingingen.

[19] Für die grundlegenden Ausführungen zu den Prangerlisten vgl. LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 21.

[20] Herrn Dr. Karsten Uhde danke ich für die zahlreichen aktenkundlichen Hinweise.

[21] Vgl. LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 21, Scans 47, 99, 101, 112.

[22] Diese Foliierung fand vermutlich direkt in der Nachrichtenstelle statt, da sie lückenhaft ist und von verschiedenen Händen aufgebracht wurde.

[23] Vgl. LAV NRW W, K 753/Zentrale Nord, Nachrichtenstelle, Nr. 21, Scan 43.

[24] Die Nutzung der Karteikarten schildert Krüger 1998, S. 267.

[25] Zur Informationsbeschaffung der Nachrichtenstelle vgl. ebd.

[26] Diese Zensurstelle beschreibt Krüger 2006, S. 127.

[27] Die verschiedenen Standorte der Zensurstelle werden dargestellt bei Wentzcke 1932, S. 442.

[28] Der Bericht wird zitiert durch ebd. Besonders auffällig ist die Nutzung des Begriffs „Pranger“ und die Fokussierung auf die Überwachung von Frauen.


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Daniel Möllers (14. Januar 2025). Die „Prangerlisten“ der Zentrale Nord: Spurensuche zu einer ungewöhnlichen archivalischen Quelle. Archivwelt. Abgerufen am 7. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/1332g


3 Gedanken zu „Die „Prangerlisten“ der Zentrale Nord: Spurensuche zu einer ungewöhnlichen archivalischen Quelle“

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